Die Zukunft der Lagunenstadt heißt „cittaslow“ statt Massentourismus
In 60 Jahren ist die Zahl der Einwohner Venedigs um 66 Prozent gesunken, die Zahl der Touristen dagegen um 530 Prozent gestiegen. Die verbliebenen 58.000 Bewohner Venedigs kämpfen für ihre Stadt und gegen zerstörenden Massentourismus: Am 26. und 27. Juni diskutierte die Bundesstiftung Baukultur im Deutschen Studienzentrum Venedig die Zukunft der Stadt: „Wir brauchen urbane und soziale Strategien, um Venedig als Modell für andere Städte zu erhalten“, resümiert Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur.
Venedig dürfe sich nicht länger den Entwicklungen der Moderne anpassen, die Moderne müsse sich umgekehrt der Stadt anpassen. Die in Italien gegründete „slow city“-Bewegung (cittaslow) könnte eine Lösung sein, wenn durch Einhaltung strenger Regeln Strukturen der Stadt erhalten bleiben: „Venedig vereint bereits viele Kriterien, die oft für eine Stadt der Zukunft diskutiert werden: Mobilität ohne Autos, Einkaufen im Quartier, Freizeitnutzung des öffentlichen Raums und ein großer Anteil auf Handarbeit beruhender Dienste, also kurze Wege im Quartier,“ ergänzt Nagel. „Daher ist es umso schwerer nachvollziehbar, dass diese positiven Eigenschaften durch den Massentourismus konterkariert werden.“
Rund 90 Teilnehmer diskutierten auf dem Symposium „Abitando Venezia – Living Venice – Venedig beleben“, zu dem die Bundesstiftung Baukultur anlässlich der 14. Architektur-Biennale ihre internationalen Netzwerkpartner, lokale Akteure und Gäste eingeladen hatte: Sergio Pascolo, Professor für Architektur und Urban Design an der Università IUAVdi Venezia, veranschaulichte, dass Venedig als dichte Stadt, umgeben von einem einzigartigen Naturraum, für die Arbeit der Zukunft – kleinteilige Strukturen, Manufakturen – aber auch als Ort für die Produktion von Ideen und immaterieller Werte ideale Voraussetzungen biete. Pascolo vermisse aber eine „digitale und grüne Strategie“ der Stadt. Der in Venedig arbeitende Architekt Dr. Clemens F. Kusch („Architekturführer Venedig: Bauten und Projekte nach 1950“) zeigte das eher unbekannte moderne Venedig, wie es unter dem Stadtbaumeister Eugenio Miozzi entstand: die Autobrücke zum Festland, das damals größte und modernste Parkhaus Europas an der Piazzale Roma oder den als Abkürzung des Canale Grande genutzten Rio Nuovo und seine Bebauung. Aktuelle Vorhaben seien aber wegen zu vieler Planungsinstanzen und dementsprechend langsamer Prozesse schwer umzusetzen.
Wie mit dieser Langsamkeit umgegangen werden kann, veranschaulichte der ebenfalls in Italien tätige Landschaftsplaner Dr. Andreas Kipar, der den Blick auf das „zweite Venedig“ auf dem Festland richtete. Der sich langsam deindustrialisierende Hafenbereich biete Raum für ein „modernes, junges und grünes Venedig“. Bauen solle man jedoch erstmal nichts, denn Architektur löse an diesem Ort keine Probleme. Gebraucht würden Freiräume und eine grüne Infrastruktur.
„Venedig muss eine offene Stadt bleiben und darf nicht abgeriegelt werden. Kulturprogramme wie die Biennalen sorgen auch für städtisches Leben. Kritisch ist aber die Fahrt der Kreuzfahrtschiffe bis in die Stadt hinein: das schadet dem Stadtbild und der ganzen Lagune. Die aktuelle Situation einer kommissarischen Stadtregierung bis zur Neuwahl 2015 sollte genutzt werden, Ziele für ein weiterhin lebendiges und von modernem Leben geprägtes Venedig auf die politische Agenda zu setzen“, so das Fazit von Nagel.